Reutlingen

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Reutlingen ist eine Großstadt im zentralen Baden-Württemberg und dessen neuntgrößte Stadt.

Reklamemarken und Siegelmarken

Verzeichnis der sortierten Reklamemarken und Siegelmarken mit einem Bezug zu Reutlingen.

Ensslin & Laiblin

H. Heinzelmann

J.J. Anner

Ludwig Görtz

Reutlinger General-Anzeiger

Stahl & Federer

Wurster & Seiler

Sonstige

Geschichte

Frühzeit

Die ältesten Siedlungsspuren auf dem Stadtgebiet (Reutlingen-Mittelstadt) stammen aus der Spätsteinzeit. Archäologische Funde auf der Achalm, einem dem Albtrauf vorgelagerten Zeugenberg, wo seit den 1970er Jahren gegraben wird, deuten auf eine dauerhafte Besiedelung in vorrömischer Zeit hin. Ausgrabungen beim „Rappenplatz“ am Südhang des Berges ergaben, dass dort insbesondere während der späten Urnenfelderzeit (10./9. Jh. v. Chr.) sowie in keltischer Zeit (zwischen dem 6. und 4. Jh. v. Chr.) gesiedelt wurde. Funde keltischer Gräber im Stadtgebiet (Bereich Seestraße und Nikolaikirche) bestätigen die jüngere Siedlungsperiode. Ausgrabungen in Betzingen und Sickenhausen bezeugen die Anwesenheit der Römer zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert n. Chr. Darüber hinaus fand man Spuren – vor allem Gräber – aus der Bronzezeit in Gönningen und aus der Hallstattzeit in Betzingen, Rommelsbach und Ohmenhausen.

Mehrere alemannische Siedlungen im 4. und 5. Jahrhundert auf dem heutigen Stadtgebiet lassen sich ebenfalls durch Grabfunde belegen. Eine dieser Siedlungen hat vermutlich beim heutigen Friedhof „Unter den Linden“ gelegen. Selbst der Name Reutlingen weist mit der typischen Endung „-ingen“ auf eine alemannische Gründung hin.

Mittelalter

Um das Jahr 1030 begann Graf Egino mit dem Bau einer Burg auf dem Gipfel der Achalm (706 m ü. NN.), die sein Bruder Rudolf fertigstellte. Von diesem Bauwerk, das im 15. Jahrhundert zu zerfallen begann und während des Dreißigjährigen Krieges vollends geschleift wurde, existieren heute nur noch rudimentäre Fundamente. Um 1650 wurde es abgerissen. Sehr viele Steine wurden als Baumaterial für Stadthäuser verwendet. 1822 ließ der württembergische König Wilhelm I. einen Bergfried als Aussichtsturm auf den Grundmauern des alten Turmes errichten, von dem man einen weiten Blick über die Stadt und den Rand der Schwäbischen Alb sowie das Albvorland hat. Bei Altenburg gab es eine weitere Burg, die Altenburg, die im Besitz des Grafen Werner von Achalm war. Diese wurde bereits um 1070 abgerissen. Der Marktplatz von Reutlingen, mit den wenigen frühmittelalterlichen Steinhäusern der Stadt (späteres Bürgerhaus, Kanzleigebäude u. Königsbronner Hof)

Der Ort Reutlingen findet erstmals Erwähnung im Bempflinger Vertrag, der auf 1089/1090 datiert wird. Dieser Erbvergleich zwischen den Achalmgrafen Kuno und Liutold und ihrem Neffen Graf Werner von Grüningen ist in der Zwiefalter Chronik des Mönchs Ortlieb (1135/37) erstmals dokumentiert. Dort wird ein „Ruodolfus de Rutelingin“ als Zeuge genannt.[8]

Zur Stadterhebung Reutlingens sind keine zeitgenössischen Quellen erhalten. Stattdessen stehen nur spätere und teils widersprüchliche Chroniken zur Verfügung. Aus diesem Grunde ist lediglich gesichert, dass Reutlingen spätestens um 1240 zur Reichsstadt erhoben wurde.[9][10] Die älteste dieser Chroniken wurde um 1292 von einem namentlich nicht bekannten Minoritenmönch unter dem Titel Flores temporum verfasst. In einer Fassung, in der er Hermannus Gygas genannt wird, berichtet er zum Jahr 1209, dass Reutlingen von Kaiser Otto IV. civiles libertates (bürgerliche/städtische Freiheiten) erhalten habe. Später habe Kaiser Friedrich II. die Stadt mit Mauer und Graben befestigt.[11]

Eine verschiedentlich behauptete Marktrechtsverleihung durch Kaiser Friedrich I. Barbarossa, auf die auch eine im Jahre 1982 am Reutlinger Marktplatz aufgestellte Gedenksäule Bezug nimmt, lässt sich hingegen durch keinerlei Quellen belegen.[10][12]

Die Reutlinger hielten den Staufern die Treue, nachdem Papst Innozenz IV. Kaiser Friedrich II. für abgesetzt erklärt hatte. An Pfingsten 1247 belagerten deshalb Anhänger des zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Heinrich Raspe von Thüringen, Gegenkönig von Friedrichs Sohn König Konrad IV., die Stadt, allerdings ohne Erfolg.[13] Zur Erinnerung an diese Belagerung wurde im September 2018 in der Zeughausstraße eine Stauferstele errichtet. Der Überlieferung zufolge begannen die Reutlinger nach der überstandenen Gefahr aus Dankbarkeit, dass ihre Gebete erhört wurden, mit dem Bau der Marienkirche. Die Belagerer hatten einen über dreißig Meter langen Rammbock zurückgelassen, an dem für die Länge des Kirchenschiffs Maß genommen wurde. Die 1343 fertiggestellte Kirche ist heute ein Wahrzeichen der Stadt und eines der bedeutendsten Bauwerke der Gotik in Württemberg. Eine Nachbildung des Rammbocks befindet sich heute außerhalb der Kirche neben dem Südturm.

Die Reutlingen zuerkannte Reichsfreiheit war zunächst eine äußerst beschränkte Freiheit. Rechtlich wie wirtschaftlich bestand eine enge Abhängigkeit zum Achalmvogt, dem die Stadt Zoll, Steuern und andere städtische Einkünfte zu entrichten hatte, der niedere und hohe Gerichtsbarkeit ausübte und den Schultheißen als Obersten der Stadt ernannte. 1262 verpfändete Konradin, der letzte Staufer, diese Rechte an Graf Ulrich I. von Württemberg.[14]

Im Jahr 1337 übertrug Kaiser Ludwig IV. mit dem sogenannten „privilegium fori“ die Gerichtsbarkeit vom Rottweiler Hofgericht und den anderen Landgerichten auf die Stadt. Die niedere Gerichtsbarkeit unterlag fortan dem Reutlinger Schultheißen. Die Hoch- oder Blutgerichtsbarkeit blieb aber zunächst beim Achalmvogt, sie ging erst im Laufe des 15. Jahrhunderts an die Reichsstadt über. Eine rechtliche Besonderheit ergibt sich aus dem vom Kaiser 1495 erteilten Privileg des Reutlinger Asyls, wonach Totschlägern, die ihre Tat ohne Vorsatz verübt hatten, ein Asylschutz in Reutlingen garantiert wurde. (Davon machten bis 1804 nahezu 2500 Menschen Gebrauch.)

Die erste städtische Verfassung von 1343 sicherte der aufstrebenden Schicht der Handwerker, die sich in Zünften zusammengeschlossen hatten, weitgehende politische Mitbestimmung. Die Verfassung von 1374 schließlich beendete die Vorherrschaft des Patriziats endgültig, sie war Grundlage der demokratisch-zünftischen Tradition bis zum Ende der Reichsstadtzeit. Nur in der Zeit zwischen 1552 und 1576 kehrte die städtische Oligarchie vorübergehend an die Macht zurück, nachdem Karl V., der die erstarkenden Zünfte für die Reformation verantwortlich machte, verfügt hatte, dass den Stadträten ein aus auf Lebenszeit bestellten Patriziern bestehender sogenannter Kleiner Rat („Hasenrat“) überzuordnen sei. Lediglich in Ulm, Reutlingen, Überlingen und Pfullendorf wurde dieser mit kaiserlicher Genehmigung in den 1570er Jahren wieder abgeschafft.

Von den 1370er Jahren an wandte sich Eberhard massiv gegen die Reichsstädte, die der Ausweitung des württembergischen Territoriums im Weg standen, insbesondere seit sie sich 1376 zur Sicherung ihrer Freiheitsrechte im Schwäbischen Städtebund auf militärischer Ebene zusammengeschlossen hatten. Diesem Bündnis stand seit 1379 der Löwenbund gegenüber, eine Vereinigung des Adels gegen die Städte, der auch Ulrich von Württemberg angehörte. Zwischen Württemberg und Reutlingen, das von Anfang an dem Bund angehörte, kam es am 14. Mai 1377 zur Konfrontation. Ulrich befand sich mit einer größeren Anzahl von Rittern auf der Burg Achalm, als Söldner aus Reutlingen einen Plünderungszug auf württembergisches Gebiet unternahmen. (Die Reutlinger hätten den Württembergern „die Kuh entführet“, so heißt es in einer alten Chronik.) Ulrich griff sie auf ihrem Rückmarsch in die Stadt an, zog sich aber nach hohen Verlusten – er selbst wurde verwundet – mit seinen Rittern auf die Achalm zurück. Auch wenn Eberhard II. mit Reutlingen sogar einen Friedensvertrag schloss („Ehinger Einung“), hielten die Auseinandersetzungen an. Sie endeten mit der Niederlage des Bundes in der Schlacht bei Döffingen und seiner Auflösung im Jahr 1388. Auch Reutlingen musste beim Friedensschluss 1389 die württembergische Vorherrschaft anerkennen.

In der ehemaligen Reichsstadt Reutlingen wird erstmals um 1329 eine jüdische Gemeinde genannt. Nach der Judenverfolgung in den Jahren 1347 und 1348 gewährte Karl IV. im Jahre 1349 den Reutlingern eine Amnestie und übergab jüdischen Besitz an die Grafen von Württemberg, die diesen an die Stadt Reutlingen veräußerten. Juden ließen sich in Reutlingen erneut um 1371 nieder und Karl IV. erließ 1377 der Stadt Reutlingen die noch ausstehenden Judengeldern. 1424 wird erstmals die „Judengasse“ genannt, die heutige Rebentalstraße und ein Stück der Kanzleistraße zwischen Reutlinger Marktplatz und Oberamteistraße. Eine Judenvertreibung fand vermutlich vor 1476 statt, denn Friedrich III. befahl im Jahre 1476 der Stadt Reutlingen, Juden wieder aufzunehmen.

Maximilian I. erlaubte 1495 und 1516 der Stadt Reutlingen, die Juden auszuweisen.

Reformation – Christliche Konfessionen in Reutlingen

Nach Beginn der Lutherischen Reformation wurde Reutlingen ab 1519 unter dem prägenden Einfluss des protestantischen Pfarrers und Predigers Matthäus Alber zu einer Hochburg der evangelischen Glaubenslehre im südwestdeutschen Raum. Innenansicht der Marienkirche, hier anlässlich des 500-jährigen Reformationsjubiläums im Jahre 2017

Ab 1519 predigte Alber, der teilweise als „Luther Schwabens“ betitelt wird, in Reutlingen nach den Lehren von Martin Luther. Bis ins 20. Jahrhundert war Reutlingen eine Hochburg des Protestantismus im Südwesten des deutschsprachigen Raums. Die Stadt gehörte 1529 zu den Vertretern der protestantischen Minderheit (Protestation) am Reichstag zu Speyer. Ihre Bürgerschaft forderte die ungehinderte Ausbreitung des evangelischen Glaubens. Nürnberg und Reutlingen waren die beiden Freien Reichsstädte im süddeutschen Raum, die sich 1530 durch Erstunterzeichnung der Confessio Augustana in Augsburg zur Lehre Luthers bekannten. Das Augsburger Bekenntnis unterzeichnete der damalige Bürgermeister Jos Weiß. Stadtschreiber und Syndikus Lorenz Zyser (Zisar) unterzeichnete 1579 für den Rat der Stadt Reutlingen die lutherische Konkordienformel von 1577.[15] Über lange Zeit war das Privileg, das Bürgerrecht der Stadt erwerben zu können, Protestanten vorbehalten. Juden waren bis in die 1860er Jahre gänzlich aus der Stadt verbannt. Katholiken wurden allenfalls als Dienstboten geduldet.

Nach dem 1802 erfolgten Anschluss an das Herzogtum Württemberg (das 1806 zum Königreich Württemberg wurde), erhielt die Stadt den Sitz eines Dekanats (siehe Kirchenbezirk Reutlingen) der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Ab 1824 gab es einen Generalrat bzw. eine Generalsuperintendentur Reutlingen, die jedoch zunächst ihren Sitz in Stuttgart hatte. Aus der Letzteren wurde 1924 die Prälatur (auch „Sprengel“) Reutlingen, welcher der Prälat („Regionalbischof“) vorsteht, der heute in Reutlingen seinen Sitz hat. Alle heutigen Kirchengemeinden im Reutlinger Stadtgebiet gehören zu dem 1802 errichteten Dekanat bzw. dem später errichteten Kirchenbezirk. Lediglich die Kirchengemeinden Mittelstadt und Reicheneck gehören zum Kirchenbezirk Bad Urach-Münsingen.

Im 19. Jahrhundert zogen wieder Katholiken in die Stadt, doch nahm deren Zahl nur sehr langsam zu. 1823 wurde die erste katholische Gemeinde gegründet. Um 1900 waren von den 21.000 Einwohnern 1.700 katholisch. 1910 weihte die stets wachsende katholische Gemeinde ihre neu errichtete St. Wolfgangs-Kirche. Die Glieder der katholischen Gemeinden gehören heute zum Dekanat Reutlingen-Zwiefalten der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Vor der Reformation gehörte Reutlingen noch zum Bistum Konstanz.

Freie Reichsstadt

In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde Reutlingen unter Kaiser Maximilian I. ein Asylrecht für Totschläger, die ohne Vorsatz gehandelt hatten, verliehen. Mit der Verleihung dieses Rechts war die Entwicklung zur Freien Reichsstadt endgültig abgeschlossen. Reutlingen besaß mit diesem Status bereits seit längerem eine nur dem Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation)“ verantwortliche Autonomie, die einem eigenen staatsrechtlichen Status gleichkam, der bis 1802 existierte. Der Marktbrunnen Reutlingens mit einer Statue Maximilians II., errichtet um 1570, erinnert bis in die Gegenwart an die Verleihung der entsprechenden Rechte, und deren Festigung durch Maximilian II. Brand der Stadt, 1726 von Gabriel Bodenehr dem Älteren

Am 23. September 1726 wurde Reutlingen von der größten Katastrophe seiner Geschichte heimgesucht, als ein Stadtbrand in 38 Stunden rund 80 % der Wohnhäuser und die meisten öffentlichen Gebäude zerstörte, wodurch etwa 1200 Familien obdachlos wurden; jedoch gab es fast keine Todesopfer. Auch die Marienkirche wurde schwer beschädigt.[16]

Anschluss an Württemberg

Infolge der napoleonischen Hegemonie in den meisten Ländern des Heiligen Römischen Reichs wurde die Stadt 1802 gegen ihren Widerstand Teil des damaligen Herzogtums und späteren Königreichs Württemberg, wodurch sie den Status der Freien Reichsstadt verlor. Zum reichsstädtischen Gebiet gehörten bis dahin neben der eigentlichen Stadt auch die Dörfer Betzingen, Wannweil, Bronnweiler, Ohmenhausen, Stockach und Ziegelhausen. Bis 1648 gehörte auch Gomaringen mit Hinterweiler zur Reichsstadt, doch wurden beide Orte seinerzeit durch die – nach dem Dreißigjährigen Krieg – überschuldete Reichsstadt an Württemberg verkauft. 1803 wurde die Stadt Sitz des württembergischen Oberamtes Reutlingen, die reichsstädtischen Dörfer wurden zu selbständigen Gemeinden. Das Oberamt erfuhr in den ersten Jahren nach der Gründung des Königreichs Württemberg noch einige Erweiterungen.

1840 kam Gustav Werner nach Reutlingen und eröffnete dort eine Rettungsanstalt für bedürftige Kinder und Waisen, aus der 1881 die sozial sehr engagierte Gustav-Werner-Stiftung hervorging.

Nach der Reichsstadt-Ära riss man die ursprünglich in der Stauferzeit errichteten und später immer wieder verstärkten und ergänzten Stadtmauern und -türme ein und füllte die Stadtgräben auf. Von dieser Stadtbefestigung stammen noch das Gartentor an der Mauerstraße, Zwingerturm und Kesselturm am Zeughausplatz, Stadtmauerhäuser und Eisturm (von 1877 bis 1906 als städtischer Eiskeller genutzt) in der Jos-Weiß-Straße sowie das Tübinger Tor an der Stadtmauerstraße.

Märzrevolution und Industrialisierung

Bei der bürgerlichen Märzrevolution von 1848 war Reutlingen nach dem Empfinden großer Teile der Bürgerschaft immer noch eine gedemütigte da vormals freie Stadt. Bezogen auf die Situation im Königreich Württemberg, wo die Revolution wegen der frühen Zugeständnisse König Wilhelms insgesamt eine vergleichsweise unblutige Entwicklung nahm, war Reutlingen ganz vorne dabei und suchte den Konflikt mit der ungeliebten württembergischen Obrigkeit.

Am 3. März 1848 – in den Anfängen der Märzrevolution – trafen sich die Reutlinger zu einer Volksversammlung am Spitalhof und stellten die sogenannten „Märzforderungen“ an König Wilhelm I. Diese aktive Beteiligung der Reutlinger an der Badischen Revolution könnte die Ursache für den um ein Jahrzehnt verzögerten Anschluss an das Schienennetz der Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen sein, da die Stadt und ihre Bevölkerung beim König in Ungnade gefallen waren.[17] Nach der 1859 erfolgten Inbetriebnahme des ersten Teilabschnitts der Bahnstrecke Plochingen–Immendingen ging es in Reutlingen sehr schnell und intensiv voran mit dem weiteren Streckenausbau. Viele Personen reisten in die nahegelegenen Städte. Doch vor allem die Wirtschaft in Reutlingen profitierte vom Eisenbahnanschluss – mit der Eisenbahn hielt auch die Industrialisierung Einzug.[18] Eine regionale Besonderheit im Verkehr war das Büschlesbähnle, das von der Nachbargemeinde Eningen nach Reutlingen fuhr. Die Eninger benannten ihre Bahn nach dem beliebten Anfeuerholz „die Büschle“.[19] Die erste Dampfmaschine fuhr 1899 nach Reutlingen, ab 1912 wurde sie von einer elektrischen Bahn abgelöst. Diese Bahn fuhr auch in Teilorte der Stadt wie zum Beispiel Rommelsbach und Altenburg.[20]

Prägende Industrien für Reutlingen waren vor allem die Maschinen-, die Papier- und die Textilindustrie. Die Industrialisierung der Papierherstellung begann in Reutlingen in den 1830er Jahren an der Echaz. Die zuvor verwendete Herstellungsmethode war wesentlich anstrengender und zeitaufwändiger gewesen. Nach einem Brand in der Reutlinger Papierfabrik entschloss sich deren Inhaber Gottlob Christian Braun, eine moderne Papiermaschine aus England zu erwerben, die einen schnelleren und effizienteren Produktionsablauf ermöglichte. So wurde auch die Produktivität gesteigert.[21] Diese Veränderung hatte auch Nachteile, denn das in einer langen Ausbildung erworbene Wissen der Experten, die früher Papier von Hand hergestellt hatten, war nicht mehr gefragt. Die Tradition der Textilproduktion in Reutlingen reicht bis in das 14. Jahrhundert zurück. Zunächst wurde sie in Heimarbeit erledigt. Durch die erste Handstrickmaschine, die 1878 nach Reutlingen kam, sollte die Arbeit erleichtert und beschleunigt werden. Zunächst wurden solche Maschinen vereinzelt von einem Verleger an Heimarbeiterinnen verliehen. Dieser Zustand war jedoch nur von kurzer Dauer, denn die Nachfrage nach der sogenannten „Boertlinsware“ beziehungsweise dem „Reutlinger Artikel“ war erheblich gestiegen. Mit der Industrialisierung wandelte sich die Reutlinger Arbeitswelt. Weniger Verbrauchsgüter wie Papier und Textilien wurden direkt in Handarbeit hergestellt. Dafür entstand eine Maschinenindustrie, die zum Teil bis heute in Reutlingen besteht.[22]

Die Firma Heinrich Stoll und Co. wurde 1873 in Riedlingen vom Strickmaschinenbauer Heinrich Stoll gegründet und fünf Jahre später nach Reutlingen verlegt. Durch die Links-Links-Strickmaschine kam es zu größerer Arbeitssicherheit und einer größeren Präzision. Trotz weiterer Standorte in verschiedenen Ländern ist die Firma weiterhin in Reutlingen vertreten und exportiert ihre Strickmaschinen weltweit.[23] Emil Adolff verlegte 1877 seine Firma nach Reutlingen. Der Betrieb stellte Hartpapierspulen her. Die hohe Qualität der Produkte sorgte für internationalen Erfolg. Die schnell wachsende Firma spielte in Reutlingen eine wichtige Rolle, da sie vielen Menschen einen Arbeitsplatz bot.[24][25] Die Reutlinger Maschinenfabrik Burkhardt und Weber wurde 1888 von den Unternehmern Louis Burkhardt und Johannes Weber gegründet. Ursprünglich produzierten sie Stockflinten, Nähmaschinen und Überwendlingsnähmaschinen (das waren Nähmaschinen, mit denen der Stoff in einem Schritt genäht, gesäubert und abgeschnitten wurde). Heute werden dort größtenteils verschiedene Maschinen, Bearbeitungszentren und Dieselmotoren hergestellt.[26] Zu den die Industrialisierung prägenden Personen gehörte Friedrich List, der Reutlinger Vorkämpfer für den Freihandel. Eine dauerhafte industrielle Entwicklung Deutschlands könne ohne Schutzzoll nicht eintreten, behauptete er später im amerikanischen Exil.[27]

Diktatur des Nationalsozialismus

Nach der Machtergreifung der NSDAP im Jahr 1933 wandelte sich Reutlingen schnell von einer sozialistisch geprägten in eine vom Nationalsozialismus dominierte Stadt. Der Gemeinderat und die öffentliche Verwaltung wurde von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet, die Gewerkschaftshäuser besetzt, Arbeiterorganisationen aufgelöst. Der NSDAP-Funktionär Richard Dederer wurde zum Oberbürgermeister der Stadt, er blieb bis zur Besetzung durch französische Truppen 1945 im Amt.

In der Diktatur des Nationalsozialismus änderte sich einiges an der hergebrachten Verwaltungsgliederung Württembergs: Aus dem Oberamt Reutlingen ging 1934 der Kreis Reutlingen hervor. Ein Jahr später wurde Reutlingen Stadtkreis im Sinne der Deutschen Gemeindeordnung, verblieb aber weiterhin beim Kreis Reutlingen. 1938 wurde der (bis Ende 1972 in der alten Form bestehende) Landkreis Reutlingen gebildet, der um einige Gemeinden des aufgelösten Kreises Urach erweitert wurde.

Reutlingen wurde 1936 Garnisonsstadt.

Die erste vom NS-Regime zur systematischen Ermordung vorgesehene Bevölkerungsgruppe betraf die als „erbkrank“ oder „schwachsinnig“ und damit als „lebensunwert“ bezeichneten Insassen von Einrichtungen für Menschen mit geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen. Die genaue Anzahl der aus Reutlingen stammenden Betroffenen, die 1940/41 den Krankenmorden der sogenannten Aktion T4 zum Opfer fielen, ist nicht mehr konkret zu eruieren, da sie in mehreren Behinderteneinrichtungen in Württemberg untergebracht waren, und einzelne auch aus der Familie heraus verschleppt wurden. Allein aus der Reutlinger Landesfürsorgeanstalt Rappertshofen waren es 73 Männer und Frauen, die mit letztlich über 10.000 vor allem aus Baden oder Württemberg stammenden Behinderten 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet wurden.[29]

Von Anfang an hatten auch die in Reutlingen lebenden ethnischen und religiösen Minderheiten, unter ihnen etwa zehn Sinti-Familien und über 100 Reutlinger Juden unter der Ausgrenzung, schließlich der Verfolgung bis hin zur Ermordung zu leiden.[30] Erst seit der Einführung der Gewerbefreiheit in den 1860er Jahren waren nach etwa 350-jähriger Verbannung der Juden aus der Stadt wieder einige jüdische Familien in Reutlingen sesshaft geworden. In den 1930er Jahren waren es vor allem Gewerbetreibende unter ihnen, die durch die Boykottmaßnahmen der Nationalsozialisten getroffen wurden. Ab Mitte der 1930er Jahre kam es auch in Reutlingen zur so genannten „Arisierung“ jüdischer Betriebe. 1942 gab es offiziell keine Juden mehr in der Stadt. Etwa 30 bis 40 von ihnen waren bereits vor dem Zweiten Weltkrieg emigriert, unter ihnen auch der vormalige Besitzer eines der größten Einzelhandelskaufhäuser in der Stadtmitte/Marktplatz, Samuel Kahn. Zwischen 50 und 70 Reutlinger Jüdinnen und Juden wurden in die KZs und Vernichtungslager im von den Deutschen besetzten Polen verschleppt, wo die meisten von ihnen im Holocaust ermordet wurden. Nur von acht davon ist bekannt, dass sie die KZ-Haft überlebten.[31] Ebenso traf es die als „Zigeuner“ verunglimpften in Reutlingen lebenden Sinti. Die meisten von ihnen wurden im August 1944 im „Zigeunerlager Auschwitz“ umgebracht (vgl. auch Porajmos).

Politische NS-Gegner aus Württemberg wurden während des Jahres 1933 oftmals im „Schutzhaftlager“ Heuberg bei Meßstetten, einem der ersten Konzentrationslager (KZ) des NS-Regimes, interniert. Von dort wurden einige nach dessen Auflösung in größere KZs verlegt. Andere, denen z. B. ein juristischer Prozess bevorstand, kamen zunächst in Untersuchungshaft, darunter der vormalige Reutlinger KPD-Bezirksvorsitzende und Stadtratsmitglied Fritz Wandel, der mit aufgrund seiner führenden Teilnahme am Mössinger Generalstreik nach einer 4½jährigen Einzelhaftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Rottenburg vorübergehend im Gestapo-Lager Welzheim und dann bis 1943 Gefangener im KZ Dachau war, danach bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Strafbataillon 999 eingesetzt wurde.[32] Unmittelbar nach dem Krieg war er neben anderen zusammen mit Oskar Kalbfell, der als SPD-Mitglied dem Kern der später so genannten „Reutlinger Widerstandsgruppe“ um den beigeordneten NS-Bürgermeister Georg Allmendinger angehört hatte[33] an entscheidender Stelle beim demokratischen Wiederaufbau der Stadt beteiligt.

Im Zweiten Weltkrieg wurden in Reutlingen mehrere Arbeitslager für insgesamt 3.950 Menschen (etwa 10 % der damaligen Reutlinger Einwohnerschaft) errichtet, die nach Deutschland verschleppt worden waren und in verschiedenen als kriegswichtig geltenden Industriebetrieben Zwangsarbeit leisteten. Darunter befand sich auch ein Lager der damaligen Firma Heim im Stadtteil Betzingen, in der Tragflächen und Höhenleitwerke für die „V1“ – eine von Hitlers angeblichen „Wunderwaffen“ – produziert wurden. Auf dem Alten Friedhof Unter den Linden erinnern einige Sammelgräber und acht Einzelgräber mit einem Denkmal aus dem Jahr 1952 an die zahlreichen Opfer von Zwangsarbeit.

Der Wehrmachtsdeserteur Karl Erb aus dem Ortsteil Sickenhausen wurde am 19. April 1945 in Mitterteich im Oberpfälzischen Landkreis Tirschenreuth ergriffen und öffentlich gehenkt.[34] Ein Straßenname und eine Gedenktafel erinnern an ihn. (siehe auch Endphaseverbrechen).[35]

In der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurde Reutlingen durch vier Luftangriffe der Westalliierten schwer in Mitleidenschaft gezogen, rund 25 Prozent des Gebäudebestandes wurden vernichtet. Um weitere Zerstörungen zu vermeiden, übergab Oskar Kalbfell am 20. April 1945 in einer beherzten Aktion die Stadt den anrückenden Truppen der 1. französischen Armee. Als Vergeltung für den vermuteten Attentatstod eines französischen Soldaten, der wahrscheinlich durch einen Verkehrsunfall starb, erschoss das französische Militär am 24. April 1945 vier Reutlinger Zivilisten als Geiseln.[36]

Nachkriegszeit

1945 wurde die Stadt unter französischer Besatzung wieder Teil des Landkreises Reutlingen und zur „unmittelbaren Kreisstadt“ erklärt. Reutlingen blieb bis 1992 ein Standort der Forces françaises en Allemagne (FFA). Nach dem im Zuge der deutschen Wiedervereinigung abgeschlossenen Zwei-plus-Vier-Vertrag erfolgten Abzug der französischen Garnison (vgl. Liste der geschlossenen französischen Militärstandorte in Deutschland) wurden deren Liegenschaften (vormalige Ypern-Kaserne, Hindenburg-Kaserne und das Offizierskasino mit angeschlossenem Kino) am zivilen Bedarf orientierten Projekten zugeschlagen. Beispielsweise entwickelte sich aus dem ehemaligen französischen Garnisonskino bis 2008 das soziokulturelle Kulturzentrum franz.K

Der Wiederaufbau Reutlingens und seine Demokratisierung ist eng mit dem Namen Oskar Kalbfells verbunden, der als erster demokratisch gewählter Oberbürgermeister der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg die politische Geschichte Reutlingens bis 1973 prägte.

1947 kam Reutlingen zum neu gegründeten Land Württemberg-Hohenzollern, welches 1952 im Land Baden-Württemberg aufging.

Seit Inkrafttreten der Gemeindeordnung des Landes Baden-Württemberg zum 1. April 1956 ist Reutlingen eine Große Kreisstadt. 1984 war Reutlingen Gastgeber der fünften Landesgartenschau Baden-Württemberg. Im Jahre 1988 überstieg Reutlingen die 100.000-Einwohner-Marke und wurde zur neunten Großstadt in Baden-Württemberg. 1987 wurde die Pädagogische Hochschule Reutlingen als selbstständige Hochschule aufgelöst. 2009 richtete Reutlingen unter dem Motto „Kultur schafft Heimat“ die Heimattage Baden-Württemberg aus.

Am 28. Juli 2013 verursachte der Hagelsturm von Reutlingen in der Stadt selbst und in weiten Teilen der Region Neckar-Alb hohe Sachschäden.[37][38]

Ende der 2000er Jahre wurde klar, dass Reutlingen, speziell am Messpunkt Lederstraße Ost, ein Problem mit zu hohen Stickstoffdioxid-Emissionen hat, der Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter wird dort seit 2008 nicht eingehalten. Die Stadt spricht selbst von einem „Stickstoffdioxidhotspot“ (Brennpunkt).[39] Bundesweit bekannt wurde dieser Punkt zum einen durch eine erfolgreiche Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen das Land Baden-Württemberg, welches das Land zu unverzüglichen Fortschreibung des Luftreinhalteplans verpflichtete,[40] sowie durch die Fernsehsendung des Magazins extra3 vom August 2020, die über die kreativen Maßnahmen der Stadt zur Senkung der Messwerte berichtete.[41]

2018 wurde bekannt, dass die Stadt Reutlingen beabsichtigte, aus dem Landkreis Reutlingen ausgegliedert und zu einem eigenständigen Stadtkreis umgewandelt zu werden.[42] Dieses Vorhaben wurde durch die Landesregierung abgelehnt, mit der Begründung, dass die Landesregierung die Grundhaltung vertrete, „dass bestehende Landkreise nicht verkleinert werden, da dies letztlich eine effiziente Wahrnehmung der (staatlichen) Aufgaben nicht unerheblich erschweren würde“.[43]


Text: Wikipedia

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